Sonntag, 5. Juli 2009

London - die Erste oder "T minus 4"

Ja, ganz richtig. Ich habe mich in London an der Uni beworben, und ich wurde tatsächlich angenommen. Tja, nur war ich noch nie in London. So eine bin ich.

Das habe ich inzwischen nachgeholt. Trotz Erkältung. Dienstag früh - Schönefeld - Handgepäck - Ryanair - Gangplatz - durchatmen - starten - landen - Stansted - Terravision - Liverpool Street Station - HALLOOOOO LONDON!

Ich bin wie in Trance. Zuviele Eindrücke in zu kurzer Zeit. Ich bin im Hier und Jetzt. Mein hier-und-jetzt-Ich spricht englisch, denkt englisch, fühlt englisch, lacht englisch. Und weil das Jetzt so schnell vergeht und von der nächsten Sekunde abgelöst wird, halte ich alles in Notizen fest...

Ich stehe im Bahnhof Liverpool Street. Lässig reiche ich der Dame am Obstsaftstand eine Pfundnote. Für mich ist es Monopoly-Geld. Egal, Appearance is everything.

Großer, hektischer Bahnhof, viele Menschen. Aber kein einziger Mülleimer. Merkwürdig, diese Engländer. Am Schalter möchte ich ein 3-Tages-Ticket für die Tube kaufen. "That will not do you any good, Love". Ich werde beraten und angelächelt und erhalte kostenlosen Unterricht in Münzerkennung. Alles in dem wunderbar charmanten Akzent. Schwupps, schon bin ich verliebt. In James. Den Ticketverkäufer hinter der Glasscheibe. Ich nicke und lächle debil. Währenddessen vergesse ich was ich eigentlich von James wollte. Reden die Briten wirklich so oder hat bislang nur einfach jeder mit dem ich hier ein Wort gewechselt habe ungeniert mit mir geflirtet?! Ich könnte ewig zuhören. Jetzt reiss Dich aber mal zusammen und konzentrier' Dich auf das Wesentliche. Inhalt, Engel. Inhalt! James erklärt, dass ab heute abend 19 Uhr keine einzige U-Bahn in London mehr rollen wird - für die nächsten 2 Tage. Ah ja, nach bester Ella-Manier habe ich mir den idealen Zeitpunkt ausgesucht um meiner neuen Heimat einen ersten Anstandsbesuch abzustatten. Ganz großes Kino, Fräulein.

Ok, also nur 1-Tageskarte. Ich plane meine Uni zu besuchen. Aber vorher noch schnell Handgepäck nach "Hause". Die Tube ist gar nicht so beängstigend, wie ich sie erwartet habe. Aber dass sie tatsächlich eine Röhre ist, finde ich doch lustig. Leicester Square. Ach ja, man muss das Ticket ja auch beim Ausgang in die Schranke schieben. Vergessen. Bedröppelt halte ich die strömenden Massen auf und krame im Portmonnaie.

An der Oberfläche angekommen, drehe ich mich in alle Richtungen. Meine Augen wissen nicht, was sie zuerst sehen wollen. Am liebsten alles gleichzeitig. Meine Ohren hingegen wundern sich nicht schlecht, dass sie an jeder Ecke gewohntes Gebrabbel hören - die Stadt ist voller Deutscher! Viele Schulklassen. Ich muss schmunzeln. Ich wandere halbwegs ziellos in keine besondere Richtung los. Hellauf begeistert. Was macht es aber so einzigartig? Warum fühlt man sich wie in einer Kulisse? Was ist so anders? Die Enge? Die Architektur? die Hektik? Die Selbstverständlichkeit. Es ist einfach toll. Ich bin platt. Über die Straße - HALT ! Richtig, erst rechts schauen. Zum Glück steht es für Amateure wie mich an jeder Ampel.

Jede Sekunde, jeder Schritt - tausend neue Eindrücke. Ich komme aus dem Schauen und Staunen gar nicht mehr raus, muss mich erinnern zu atmen. Wie sollte die Straße noch heißen? Ich hab doch vor drei Minuten nachgeschaut. Drei Minuten scheinen eine Ewigkeit. Der Kopf dreht sich. Schneller und schneller. Ich biege wieder ab, schaue in jedes Geschäft ohne mein träumerisches Tempo zu verändern. Hoppla, hallo Onkel Zufall. Ich stehe vor meinem Haus. Unten ein Buchladen. Zwei goldene und ein silberner Schlüssel öffnen die schmale Tür. Dahinter, ein enger Flur mit (OBACHT!) altrosa Teppichboden ausgelegt. Am Ende des Flurs eine steile Treppe nach oben. Ich ziehe die Haustür hinter mir zu, lasse London für einen Moment draußen und fühle mich fabelhaft britisch.

Einmal durchgeatmet, ein Schluck Wasser getrunken. Jetzt aber schnell wieder los. Die Zeit drängt. "T minus 4" - 4 Stunden fahren die Bahnen noch. Stephen, mein Landlord, zeigt mir auf dem Weg zur Covent Garden Station kleine Winkel, Abkürzungen, enge, versteckte Allyways und einen "genuine London Pub". Keine Touristenbutze. Och, ick könnt ja schon ein Bier vertragen... Später, später. Tick-tack. Wieder um eine Ecke, durch eine kleine Gasse. So schnell kann doch keiner gucken! Aber die Einheimischen habe alle ein beachtliches Tempo drauf. Hier wird nicht lange gefackelt. Stechschritt.

Wieder U-Bahn. Diesmal noch mehr Menschen. Es ist kurz nach drei. Ich steige Holloway Road aus und alles ist anders. Irgendwie grau. Alltag. Leer. Hier pulsiert das Leben nicht. Hier pulsiert eigentlich gar nichts. Der Himmel hat sich verdunkelt als wollte er eine dramatische Unterstützung liefern. Genau gegenüber vom Bahnhof ist das erste Unigebäude zu sehen. Die Bibliothek. Heidewitzka, ist die hässlich. Aber die Holloway Road hat noch mehr Gebäude. Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Es wird nur leider nicht besser. Ich frage mich von Gebäude zu Gebäude. Das Admissionsoffice ist völlig unscheinbar in einer Gasse. Meine Schulbaracke war beeindruckender! Ich gebe meinen Reply Slip ab. Danke. Tschüss. Jetzt bin ich also offiziell angenommen. Von der vorhergegangenen Euphorie ist gerade nicht mehr viel zu spüren. Als ich auf die Straße trete, fängt es an zu nieseln. Klassiker.

Die Enttäuschung ist da. Sie grinst mich mit schiefem Mund unverholen und schadenfroh aus leblosen Augenhöhlen an. Wer an britische Bildungseinrichtungen denkt, der sieht im Geist Cambridge oder Oxford. Uralte, bombastische Bauten mit dicken Mauern, die Geschichten erzählen können. Mauern, in denen seit Jahrzehnten das Wissen genährt und gefördert wird. Eine inspirierende Umgebung in der Höchstleistungen erzielt und Genies entdeckt werden. Klischee? Ja, vielleicht. Aber selbst ein Schatten dieses Klischees hätte mir gereicht. Ich treffe jedoch keine wissbegierigen Studenten. Ich treffe auch keinen verwirrten Professor. Eigentlich treffe ich gar niemanden. Ich gehe wieder. Verabschiede mich in den Untergrund. Die Bahnen fahren noch.

In der Bahn überlege ich, wieviel Zeit mir noch bleibt. T minus 3. Ach, nach der Erfahrung schadet Dir ein bisschen Risiko gar nichts, sage ich mir. Also mache ich noch einen Ausflug. Auf Anraten von Tine steige ich in Camden wieder aus. Mal sehen, was diesmal hinter den Schranken am Ausgang auf mich wartet.

Als ich aussteige, atme ich erleichtert auf. Hier fühle ich mich wieder wohl. Menschen, viele Menschen. Viele lustig angezogene Menschen. Punks, Hippies, viele Menschen ohne Labels. Und ich. Alles wuselt und ist laut. Die Grenzen zwischen wunderbar und sonderbar verlaufen fließend. Nach zehn Minuten Freak-town bin ich wieder völlig ausgeglichen. Ich laufe über Märkte und durch zahllose Schrabbelshops. Mit der Ausgeglichenheit kommt auch ein anderes Gefühl - Hunger. Seit Mamas Hasenbroten im Flugzeug um kurz nach neun habe ich vor lauter Aufregung nichts mehr zu mir genommen.

Während ich mir noch überlege wo und wie ich am effizientesten und möglichst kostengünstig meinen Appetit bezwingen kann, sehe ich vor mir ein Schild schweben. Na gut, nicht wirklich schweben aber es wabert eben so über die Köpfe hinweg. Auf dem Schild wird köstliches Essen angepriesen. An dem Schild ist ein Stock und an dem Stock ist ein Mann. Der läuft vor einem kleinen Laden auf und ab und lockt ahnungslose Touristen wie mich hinein. Ich lasse meinen unermesslichen Hunger als Ausrede gelten und betrete "Inspiral".

Während ich mein fabelhaftes, vegetarisches 3-Minuten-Menü, mit Blick auf den Regent-Canal, Camden Lock Market und Hippie-Starbucks genieße, atme ich endlich aus. Hier bin ich also. Die Aufnahme wird innerlich gestoppt. Akku alle, Speicherplatz voll. Sprachlos, Atemlos (Mund voll). Wie großartig ist denn diese Stadt?!

Na, das kann ja was werden. Ich freu mich. Ich freu mich richtig drauf.

London-Ella

P.S.: Wie es weitergeht als die Tube tatsächlich nicht mehr fährt und ich 25 Stunden durch die Stadt laufe: - Alle Fotos der ersten 48 Stunden meines London-Lebens: im Fotoalbum (anklicken)