Samstag, 14. November 2009

London - Tag 53

Plötzlich war er da. Mir nichts dir nichts kam er angeschlichen und dann war er auf einmal da. Der Herbst. Der Herbst in der Stadt.

Manchmal ist es ein schöner Herbst. Ein milder, mit vielen bunten Blättern und Sonnenstrahlen.

(Fotos durch anklicken vergrößern. Anschließend mit Zurücktaste zum Text zurückkehren.)


Manchmal aber kommt der Sturm. Dann klappern die Fenster und Zähne, und die Bäume rauschen tosend, wenn er geräuschvoll durch die Häuserschluchten fegt; Blätter fliegen und Fußgänger lehnen sich mit zugekniffenen Augen und wehenden Frisuren dem Widerstand des Windes entgegen. Heute ist so ein Herbsttag. Zusätzlich hat der Sturm heute Nacht den Regen mitgebracht. Mal wütend, mal zart hat er gegen meine großen Fenster getrommelt. Eines ist allerdings tatsächlich sehr beachtlich: Langweilig ist das Wetter nie. Nirgendwo wechselt es so schnell wie hier. Heute morgen hat der warme Wind die Wolken weitergeschoben und so bin ich jetzt trockenen Fußes in mein Samstag-morgen-Frühstückscafé gelangt. Aber der Sturm, der tobt draußen noch!

Tja, das Wetter. Bei uns ein Verlegenheitsthema in sinnlosen Konversationen. Hier ein landestypisches Phänomen welches gerne und ausführlich von Jederman besprochen wird. Es ist hier eben immer etwas Besonderes. So wie vor drei Wochen...

Brighton. 8 Damen aus dem Studiengang (eigentlich zu Beginn nur 7, denn die Canadierin Jen kommt generell zu spät und hat den Bus um gute drei Minuten verpasst. Sie kam zwei Stunden später mit dem nächsten Bus nach) haben sich an einem sonnigen Sonntag aufgemacht die Küste zu erkunden. Meinen Freund den Wind haben wir dort getorffen, vor allem aber viel Sonne, viel Lachen, viele Möwen ("Lachmöwen"?) und meine erste Portion Fish & Chips. Unsere zwei Starfotografinnen Steph (USA) und Isabel (Frankreich) haben alles in prächtigem Bildmaterial festgehalten:



Leider habe ich irgendwo meine Stimme verloren. Wer sie findet kann sie gerne an mich schicken: Ella in London!

Ansonsten haben sich die kurzweiligen kulturellen Ausflüge inzwischen auf ein Minimum reduziert. Das lodderige Studentenleben wurde von einem strickten Lernplan infiltriert. Überblick über die letzten 6 Tage: "5 Tage a 9 Stunden in der Bibliothek, lernen, lesen, Kommunikationsplan schreiben. Freitag Klausur." Alles ächzt und stöhnt, ich ächze und stöhne leiser, denn ich freue mich, dass sich mein unsteter Geist mit Gehaltvollem beschäftigen darf. Für mich ist es ein Spaß. Ein Spaß der vielleicht den Namen "Ernst", "Ehrgeiz" oder "Erfolg" trägt, aber dennoch in erster Linie ein ganz großer Spaß ist. (Gerade sind am Fenster des Cafés zwei Blumenpötte vorbeigeflogen und auf der anderen Straßenseite wurde ein Dreikäsehoch von einer Bö überrascht und hat daraufhin eine Pirouette hingelegt, die dem russischen Staatsballett würdig gewesen wäre). Die erste englische Klausur ist geschrieben, die Unkenntnis über das britische Notensystem aufgelöst (was es nicht besser macht!) und das Thema Internationale Marketing Kommunikation in alle möglichen Variablen zerlegt. Herrlich!

Für den einen oder anderen Besuch bleibt aber dennoch Zeit. So kamen Mutter und Patentante gleich in der ersten Woche um Stadt und Menschen (neu) zu erkunden. Später folgten entnervte aber verliebte Masterstudentinnen aus Berliner Zeiten, manche mit Tangovorlieben, andere mit von mir sehr geschätzten Kaffeevorlieben. Letzte Woche dann war Amir hier. Ihm habe ich das alles mehr oder weniger zu verdanken, er hat mich nämlich letztes Jahr auf den Studiengang gebracht. Amir, mein Held. Und ein gewisser filmaffiner Freund hat auch letzte Woche trotz Arbeit die Zeit für ein albernes und sehr wohltuendes Abendessen gefunden.

Wer kommt nächste Woche?

Aber ich rate euch: Überlegt es euch gut, denn vor zwei Wochen ist in London ein böser Geist umhergeschlichen. Muaaaaahhhahaaaaaaaa... Der Geist von HALLOWEEN! In Deutschland ein kläglicher Versuch mit einer amerikanischen Tradition Geld zu machen. Hier ist es gesellschaftlich beinahe verpönt NICHT mitzumachen. Trotz fehlender Stimme (was, wie sich später herausstellen sollte, sehr passend zum Kostüm war) wurden die Feierlichkeiten für die Nacht des 31. Oktober geplant.

Der Hilferuf eines Mitstudenten vier Stunden vor Beginn ("I don't have a costume, will you please help me?!") führte dazu, dass der Stables Market in Camden in einer Hau-ruck-Aktion geplündert wurde. Herauskam ein ganz passabler französischer Cowboy (aber den Franzosen kriegt man partout nicht aus ihm heraus!)


Eine Ladung frischer weißer Farbe im Gesicht und ein rot-schwarzes Tutu später war auch ich für die Nacht gewappnet. Ich präsentiere:

Der Cowboy und die tote Ballerina!



Die Nacht wurde mit Knastschwestern, Schneewittchen, ungläubigen Priestern, schwarzen Witwen, gefallenen Engeln und jeder Menge Teufel und Katzen verbracht.



Ich kann nicht glauben wie schnell die Zeit verfliegt. Ich will sie nicht vorbeiziehen lassen. Ich möchte sagen "Halt an, ich habe dich noch gar nicht genug genossen!" So sehr ich mir auch manchmal einen Tee zuhause auf der Couch wünsche, so tausendmal wird das aufgewogen von dem Gefühl genau zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. Fast jeden Tag. (Seit einer Weile läuft Dean Martin im Café. Es ist zehn vor vier und draußen wird es langsam dämmrig. Die Autos haben schon Licht an und auf den Tischen wurden gerade die Kerzen angezündet. Neben mir sitzt eine bildschöne, zarte Frau mit kurzen dunklen Haaren in einem Burberry-Trench und liest offensichtlich ein Drehbuch...)

Wem das alles zu rosig und verklärt klingt, dem sei gesagt, dass ich um Himmels Willen nicht alles 24/7 fabelhaft finde. Ich genieße es, weil es eine anstrengende und aufwühlende, manchmal ermüdende, manchmal dreckige aber immer eine (er-)lebbare, sich verändernde und wahnsinnig echte Realität ist. Und weil ich manchmal nicht fassen kann, was für ein Glück ich gerade habe.

Bonne soirée tout le monde (mein Französischkurs zeigt erste Erfolge!)

London-Ella

(P.S.: Noch ein Hinweis in nicht ganz uneigennütziger Sache: Bitte geht euch "Das weiße Band" im Kino anschauen. Und wer sich den Spaß gönnen möchte, möge doch auch den Abspann schauen... :-))